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Nov 232012
 

Verletzung des Menschenrechts der Bewegungsfreiheit in Deutschland

von Josephine Landertinger Forero

600 Kilometer in 29 Tagen hat eine Gruppe von Asylbewerbern zurückgelegt, die von Würzburg nach Berlin gelaufen ist. Gestartet waren 15 Menschen, am Ende sind es fast viermal so viele gewesen. Das Brisante: eigentlich dürfen sich Asylbewerber in Deutschland nur in dem Landkreis bewegen, in dem sie ihren Asylantrag gestellt haben. Diese Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit ist in Europa einmalig und heißt auf Beamtendeutsch “Residenzpflicht”. Mit einem bewussten Bruch dieses Gesetzes macht die Gruppe nun in Berlin auf sich aufmerksam. Sie forderte von der Bundesregierung, genau diese Residenzpflicht aufzuheben. Zudem setzt sich die Gruppe für die Abschaffung von Flüchtlingslagern, die Beschleunigung des Asylverfahrens und ein Ende der Abschiebungen ein.

Turgay Ulu steht vor dem Infopoint-Zelt am Oranienplatz. Unmittelbar vor den Schlafzelten der Flüchtlinge können sich hier Passanten über die Motive des Camps informieren. Der Infopoint ist von freiwilligen Helferinnen und Helfern so gut wie ständig besetzt. Foto / © Josephine Landertinger Forero

„Mit diesem Marsch haben wir ein Tabu gebrochen und das Thema Asyl wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Wir haben allen Mut gemacht, zu kämpfen“, sagt Turgay Ulu, ein türkischer Journalist und Schriftsteller, der in seiner Heimat 15 Jahre lang wegen seiner politischen Schriften im Gefängnis saß. Als ihm nach seiner durch Amnesty International unterstützten Freilassung erneut der Prozess gemacht werden sollte, floh er nach Griechenland. Von dort aus gelangte er nach Deutschland. Seit fast anderthalb Jahren wartet er nun auf eine Entscheidung der Ausländerbehörde. Hat er nun ein Anrecht auf Asyl oder nicht?

In Deutschland kann das viele Jahre dauern. Und bis die Entscheidung fällt, werden die Flüchtlinge in Lagern untergebracht, sie dürfen ihr Landkreis nicht verlassen und bekommen Lebensmittelgutscheine. Sie dürfen weder arbeiten, noch einen Sprachkurs besuchen. In den von der Außenwelt meist abgeschotteten Heimen leben Flüchtlinge aus vielen verschiedenen Ländern in Zwangsgemeinschaften auf engstem Raum.

„Wir sind geflüchtet, weil wir dort, wo wir herkommen, nicht das Recht auf Leben hatten. Nun müssen wir auch in den Ländern Europas, in die wir geflüchtet sind, gegen diejenigen ankämpfen, die uns das Recht auf Leben verweigern”, sagt der türkische Schriftsteller Ulu.

Auf dem Camp am Berliner Oranienplatz und am Brandenburger Tor sind die Flüchtlinge mitten in der Stadt. Hier nehmen sie sich das Recht, zu tun, was ihnen sonst verwehrt wird: am kulturellen und sozialen Leben teilnehmen. Das Ballhaus Naunynstraße, ein Theater, stellt den Flüchtlingen kostenlose Tickets zur Verfügung. Dutzende von Helferinnen und Helfern kommen jeden Tag zum Camp und viele der Anwohner stellen ihr Badezimmer für eine warme Dusche zur Verfügung. „Wir versuchen, unsere menschlichen Seiten lebendig zu halten, die durch Isolation und Vereinsamung vernichtet werden sollen“, so Ulu.

Gleichzeitig bleiben die Flüchtlinge in ihrem Kampf hart. Seit einem Monat sind sie schon in Berlin. Ihr Hungerstreik am Brandenburger Tor führte zu einer Aktuellen Stunde im Bundestag über das Thema Residenzpflicht und andere Asylgesetze. Nachdem die Regierung alle Forderungen der Asylbewerber ablehnte, sind sie vor wenigen Tagen erneut in den Hungerstreik getreten.

Anfang September diesen Jahres nahm sich der 27-Jahre alte Samir Hashemi in einem Flüchtlingslager bei Stuttgart das Leben. „Die Heime sind generell wirklich eklig. Die Zimmer sind winzig und die Klos unbenutzbar“, sagt Heidi, eine der Helferinnen auf dem Camp am Oranienplatz. „Es sollten Führungen organisiert werden, damit die Bürger sehen können, wie es da wirklich aussieht, denn so ein Heim mal live zu erleben, ist etwas ganz anderes, als darüber zu lesen.“ Andererseits, so die Helferin, stellten die Heime dennoch die Privatsphäre dieser Menschen dar und die würde durch öffentliche Führungen natürlich empfindlich gestört.

„Die Situation ist so, dass sich hier in Kirchheim unter Teck, einem der vermeintlich besseren Heime, jemand das Leben nahm. Dabei ist die Lage in anderen Heimen noch viel schlimmer“, erzählt Morteza Oshtorani, ein Mitbewohner des verstorbenen Samir, der Zeitung „The Voice of Refugees and Migrants“. Dieselbe Zeitung berichtet, dass es Frauen unter diesen Umständen oft schwerer haben, denn sie seien zusätzlich sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Zum Teil nutzten Arbeitgeber die Tatsache aus, dass die Frauen keine Arbeitserlaubnis besitzen. Nicht selten, so die Zeitung, gelte die Devise: „Ich gebe dir Arbeit und du gibst mir deinen Körper“. Erschwerend sei auch, dass sich Frauen Räume häufig mit alleinstehenden Männern teilen müssen.

Wie lange das Camp in Berlin noch aufgeschlagen bleibt, ist ungewiss. Klar ist aber, dass die Flüchtlinge bereit sind, den Kampf für ihre Rechte aufrechtzuerhalten. „Wir bleiben, bis unsere Forderungen gehört werden“, sagt der türkische Schriftsteller Ulu. Alle wissen, dass sie ein Gesetz gebrochen haben. Der wiederholte Verstoß gegen die Residenzpflicht wird laut §85 des Asylverfahrensgesetzes mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe geahndet. Die Flüchtlinge in Berlin hoffen dennoch, dass ihr Protest keine strafrechtlichen Konsequenzen haben wird. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg duldet jedenfalls bisher das Camp.

Eine englische Version des Beitrags findet man hier: the-mag.net/where-are-you-going/

Infobox:

Asylverfahrensgesetz § 56 Räumliche Beschränkung

(1) Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt. In den Fällen des § 14 Abs. 2 Satz 1 ist die Aufenthaltsgestattung räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem der Ausländer sich aufhält.

(2) Wenn der Ausländer verpflichtet ist, in dem Bezirk einer anderen Ausländerbehörde Aufenthalt zu nehmen, ist die Aufenthaltsgestattung räumlich auf deren Bezirk beschränkt.

(3) Räumliche Beschränkungen bleiben auch nach Erlöschen der Aufenthaltsgestattung in Kraft bis sie aufgehoben werden. Abweichend von Satz 1 erlöschen räumliche Beschränkungen, wenn der Aufenthalt nach § 25 Abs. 1 Satz 3 oder § 25 Abs. 2 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes als erlaubt gilt oder ein Aufenthaltstitel erteilt wird.

Ausnahmen: In Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und voraussichtlich ab Dezember 2012 auch in Hessen ist die Residenzpflicht auf das Landesgebiet ausgedehnt.

Mehr Infos hier: www.gesetze-im-internet.de

Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention)

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist das wohl wichtigste Dokument für den Flüchtlingsschutz. Hier wird festgelegt, wer eigentlich ein Flüchtling ist oder nicht. Die Konvention wurde 1951 verabschiedet und gilt in 144 Staaten.

Mehr Infos hier: www.unhcr.de/recht

 

 

 

 

 

 

 

 

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