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Jul 132012
 

Von Ramesh Kiani

Foto: © Ramesh Kiani

Der Zug fährt ein. Ich gehe die Treppen schnell hinunter, muss mich beeilen. Es ist unmöglich, schneller zu laufen. Hier im Hauptbahnhof ist es immer voll. Eine laute Schulgruppe steht neben dem Reisezentrum. Man kann nicht einfach durchgehen. Der Bus steht an der Haltestelle. Ich überquere die Straße und laufe schnell zum Bus. Die nette Busfahrerin, die immer lächelt, sitzt wieder am Steuer. „Guten Tag“, sagt sie.

Der Bus fährt, meine Gedanken auch.

Es war Zufall, dass ich sie kennenlernte. Meine chinesische Freundin wollte sie anlässlich des Muttertags im Altenheim besuchen, aber nicht alleine, ich war dabei. Ich hatte keine besondere Vorstellung von einem Altersheim. Meine einzigen Erwartungen gingen auf einige Bilder aus Zeitungen oder von irgendwoher zurück: alte Männer und Frauen, die zusammensitzen und sprechen oder alleine in einer Ecke sind.

Als wir ankamen und durch den Flur gingen, bekam ich einen anderen Eindruck. Ich fühlte einen Druck auf Kopf und Schultern und dachte: „Hier steht die Zeit still“. Es gab keine Bewegung bei den alten Menschen und in der Luft. Die einzigen, die sich bewegten, waren zwei Pfleger, die sich in der Küche um einige Senioren kümmerten und ihnen Kaffee oder Tee zu trinken gaben. Die Senioren saßen um den Tisch, auf dem Stuhl oder im Rollstuhl. Aber keiner sprach mit dem anderen. Ein Wort konnte dort ein phantastisches Ereignis sein. Zwei der alten Menschen saßen alleine im Flur. Sie guckten irgendwohin, man weiß nicht wohin, ob in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Sie waren nicht in der Gegenwart. Der Flur wurde immer enger und ewig lang. Ich brauchte Sauerstoff und dachte, ich schaffe es nicht bis zum Ende dieses Flures. Das Haus war wie ein großer Sarg, in dem alle Menschen am Leben sind. Sie konnten atmen, essen, schlafen, laufen… aber wie?

Meine Freundin ging voran. Für sie war diese Situation normal, weil sie in dem Altenheim eine Zeit lang freiwillig gearbeitet hatte. Für mich aber war alles neu und viel auf einmal. Als ich mit meinen schlechten Gedanken kämpfte, hörte ich plötzlich eine Stimme: „Hallo, junge Frau.“ Eine alte Frau, schlank, mit glatten grauen Haaren und einem hellblauen Kleid, stand in der Ecke, hielt meine Schultern und lächelte: „Oh, Sie haben eine schöne Brille“. Das war ein kleiner Schock. Sie hatte mich geweckt. Ich lächelte auch: „Danke“.

Irma Klein, die Oma der Wahlfamilie, hat in ihrem Leben viel Schönes und auch Schlechtes erlebt, etwa im Zweiten Weltkrieg. Aber sie hat immer gelacht. Leben war für sie Leidenschaft! Foto: © Ramesh Kiani

Wir standen vor der Zimmertür und meine Freundin ging hinein. Ich sagte „Hallo“ und die alte Dame antwortete zögernd. Sie sah mich an, mit einer großen Frage. Die Frage konnte man hören, obwohl sie sie nicht stellte. Während meine Freundin eine Vase für den Blumenstrauß besorgte schwiegen wir. Danach erzählte ich, warum ich da war. Langsam, ganz langsam schmolz das Eis. Sie fragte, aus welchem Land ich käme und was ich mache. Nach einigen Minuten war ein nettes, ruhiges Gespräch zwischen uns entstanden. Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich aus diesem Haus raus. Ich wollte nicht mehr bleiben und nie wieder kommen. Als wir uns verabschiedeten, blickte sie mich freundlich an: „Kommst du nächste Woche wieder?“ Meine Abwesenheit in den darauffolgenden zwei Wochen war zunächst meine Antwort. Doch danach kam ich wieder. Jedesmal habe ich sie etwas besser kennen gelernt. Ihre Leidenschaft fürs Leben, obwohl sie sich nicht bewegen konnte, hat mich immer erstaunt. Sie hat nie aufgegeben. Diese Kraft und dieser Stolz haben mich beeindruckt. Auch deswegen bin ich immer wiedergekommen.

Jetzt bin ich wieder hier, im Altersheim, bei ihr und ihrer Tochter. Wir feiern eine kleine Party anlässlich meines Geburtstags, zu dritt. Wie eine kleine Familie. Kuchen, Schokolade, Geschenke, Fotos, Lachen und alles. Die Tochter und ich verabschieden uns anschließend von ihr. Was sie überhaupt nicht mag. Man freut sich über das Leben, wenn man aus dem Altersheim raus kommt. Wir beide sind zufrieden, dass wir eine kurze schöne Zeit mit ihr hatten.

Wir entscheiden uns, zusammen ins Café zu gehen. Unterwegs frage ich sie, ob sie Lust hat, mich kurz in den persischen Laden um die Ecke zu begleiten. Wir gehen hin. Ordentliche Regale voll von orientalischen Nahrungsmitteln, vor allem iranischen. Eine dunkelhaarige Frau mit hellbrauner Haut und dunklen Augen steht hinter der Kasse und guckt uns an und lächelt: „Guten Tag.“

„Salam“* sage ich. „Salam“ sagt sie. Wir schauen die Regale an. Der Geruch hier ist bekannt. Jedes Bild auf den Konservendosen weckt meine Erinnerungen. Meine Lieblingssüßigkeiten, als ich ein Kind war. Das Essen, das Oma immer gerne für uns gekocht hat. Eine Art Minze, die nur in der Nähe des Flusses wächst. Es war unser bestes Spiel, sie zu sammeln. Dieser Geruch bringt mich zurück in die grünen Felder, in die Sonne, in die Heimat.

Aufgeregt erzähle ich der Freundin von jedem Essen aus den überbordenden Regalen, wenn sie mich fragt. Sie bemerkt das. Es ist mir ein bisschen peinlich, aber sie versteht mich. Manchmal kann man nicht alles kontrollieren und es passiert, was passieren soll. Ich frage die Frau nach getrockneten Limonen. Sie zeigt auf ein Regal. „Nein, die meine ich nicht. Die hier sind hell, ich möchte dunkle“.

Getrocknete Limonen. Foto: © Ramesh Kiani

Sie guckt mich neugierig an: „Darf ich fragen, aus welchem Gebiet Sie kommen?“
„Aus dem Süden“.
„Ja, das habe ich vermutet, aus diesem Grund fragen Sie nach dunklen“.
„Kommen Sie auch aus dem Süden?“.
„Ja“.
„Aus welcher Stadt?“
„Ahwaz“**.
„Ich auch“, sage ich.

Ich weiß, welche Frage als nächstes kommt und ich bin bereit zu antworten. „In welchem Teil der Stadt haben Sie gewohnt?“, fragt sie sofort. Sie erzählt mir, dass ihr Mann im gleichen Viertel gewohnt hat. Als sie über sein Volk spricht und dann seinen Namen sagt, bleibe ich still und gucke die Freundin und dann sie an, ein Mal, zwei Mal, und lache, ein lautes und herzhaftes Lachen. Beide schauen mich mit großen Augen an. Sie sind überrascht. Es ist ein unmöglicher, unglaublicher Moment für mich. „Wie kann es sein?“ sage ich zu der Freundin. Sie guckt mich immer noch mit überraschten Augen an und fragt: „Was ist los?“ „Weißt du was? Ihr Mann ist mit mir verwandt. Kannst du dir das vorstellen? Hier, in Münster, passiert etwas völlig Unerwartetes. Wie kann das sein?“ Die Frau lacht auch und fragt, ob ich in Münster wohne. „Nein, ich habe bis letzten Februar hier gewohnt und bin dann umgezogen“, sage ich. Sie lacht wieder: „Wir sind einen Monat später, im März nach Münster gekommen“. Jetzt lachen wir alle drei.

Die Kunden kommen. Wir verabschieden uns von ihr und gehen. Ich fühle, dass ich in der Luft stehe. Ein unbekanntes Gefühl. Wenn ich in meinem Land wäre und ihr begegnen würde, hätte ich dann dieses Gefühl? Nein. „Weißt du? Ich habe ihren Mann bis jetzt nur ein einziges Mal gesehen und weiß gar nicht mehr, wie er aussieht. Ich weiß aber, dass ich nicht seinetwegen so viel fröhlich bin, sondern wegen des Ereignisses selbst. Wie ist so etwas möglich?“

Wir sitzen im Café und rekapitulieren die letzte halbe Stunde. Nur eine Frage nach getrockneten Limonen bringt die Welt zusammen und macht sie so klein. Aber warum muss es in Münster passieren? Ich finde immer ein paar Stücke meines Lebens in dieser kleinen Stadt. Oma, gute Freunde, Ruhe wie in der Heimat.

*  „Salam“ bedeutet auf persisch  „Hallo“
** Ahawaz ist Hauptstadt der Provinz „Khozestan“ im Südwest Iran

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